Grundsätze der menschzentrierten Gestaltung – ein Blick in die DIN EN ISO 9241-210
Die menschzentrierte Gestaltung interaktiver Systeme verschafft den Benutzern eine erheblich bessere User Experience. Die Grundlagen und Vorgehensweise finden sich in der internationalen Norm DIN EN ISO 9241-210. Wer sich daran hält, bekommt bessere Anwendungen, zufriedene Benutzer und ökonomische Vorteile. Die Grundsätze der menschzentrierten Gestaltung erschienen erstmals in der Norm ISO 13407 im November 2000. Rund zehn Jahre später, im März 2010, gab es eine Neuveröffentlichung im Rahmen der Normenreihe ISO 9241, in der deutschen Übersetzung »Ergonomie der Mensch-System-Interaktion« betitelt. Die nächste Auflage folgte im März dieses Jahres. Über die gesamte Zeit haben sich die Basis und der Gestaltungsprozess im Kern kaum verändert. Das ist bemerkenswert, und gerade deswegen lohnt es sich, einen frischen Blick auf die Norm zu werfen.
Menschzentrierte Gestaltung ist ein Ansatz zum Entwickeln gebrauchstauglicher und zweckdienlicher interaktiver Systeme. Dabei konzentrieren sich die Produktteams auf die Benutzer und ihre Anforderungen.
Die Grundsätze der menschzentrierten Gestaltung sowie die darauf aufbauenden Tätigkeiten und deren Abhängigkeiten sind in der internationalen Norm DIN EN ISO 9241-210 beschrieben. Ein menschzentrierter Ansatz muss insgesamt sechs Grundsätze befolgen. Drei dieser Grundsätze drehen sich um das Verständnis und den Einbezug von Nutzern:
- Die Gestaltung basiert auf einem umfassenden Verständnis der Benutzer, Aufgaben und Arbeitsumgebungen. Denn die User Experience hängt vom Kontext ab, das heißt, Benutzer verfolgen bestimmte Ziele und führen bestimmte Aufgaben in einer bestimmten Umgebung aus. Das User Interface, mit dem ein Benutzer zu Hause einen Videochat mit seinen Freunden abhält, kann eine hervorragende User Experience bieten, sich aber als völlig ungeeignet erweisen, wenn dieselbe Person im Büro einen Online-Workshop mit Kollegen und Kunden durchführen möchte.
- Benutzer sind während der Gestaltung und Entwicklung einbezogen. So will man herausfinden, wie sie voraussichtlich mit dem künftigen System arbeiten werden. Mit »Benutzern« sind hier konkret Personen gemeint, die zur Zielgruppe des Systems gehören, das heißt über repräsentative Fertigkeiten, Merkmale und Erfahrungen verfügen.
- Bei der Gestaltung wird die gesamte User Experience berücksichtigt. Hier geht zum Beispiel auch um den Grad der Automatisierung. Die Aufgabe von UX Professionals ist es, stets die Sicherheit und Zufriedenstellung der Benutzer im Blick zu haben, sowohl kurzfristig (Behaglichkeit und Vergnügen) als auch langfristig (Gesundheit, Wohlbefinden und Arbeitszufriedenheit). Dazu gehört nicht nur, dass Benutzerinnen mit dem Produkt ihre Aufgaben bewältigen können, sondern es auch als Ganzes sinnvoll finden.
Die drei übrigen Grundsätze bilden die Grundlage für »Agile UX«, also das Einbetten von Tätigkeiten und Methoden in agile Vorgehensmodelle:
- Der Prozess sieht Iterationen vor. Requirements Engineers, Analysten, UX Professionals und andere Projektverantwortliche können unmöglich jedes Detail eines jeden Aspekts der Interaktion schon zu Beginn des Projekts präzise voraussehen. Denn viele Anforderungen zeigen sich erst im Laufe der Entwicklung, man muss also ständig nachjustieren.
- Das Verfeinern und Anpassen von Gestaltungslösungen wird fortlaufend auf der Basis benutzerzentrierter Evaluierung vorangetrieben. Rückmeldungen der Benutzer sind ein zentrales Element des Gestaltungsprozesses. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass das entstehende System den Vorstellungen entspricht. Evaluation ermöglicht es, Prototypen in realistischen Kontexten zu prüfen. Das erleichtert es auch den Benutzern, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Sie fließen dann in die nächste Iteration ein.
- Das Gestaltungsteam vereint fachübergreifende Kompetenzen und Gesichtspunkte. Dieser Grundsatz erinnert an die Beschreibung interdisziplinärer Entwicklungsteams in Scrum, die »als Team alle Fähigkeiten haben, die notwendig sind, um ein Produkt-Inkrement zu erstellen«. ISO 9241-210 fasst den Begriff »Team« weiter und bezieht neben UX-Experten andere Fachleute, Benutzer, Marketing-Mitarbeiter, Verkäufer, Analysten, Entwickler und Personaler ein. Ziel ist, das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Menschzentrierte Gestaltungsaktivitäten
Diese sechs Grundsätze geben den Rahmen vor. Wie der Gestaltungsprozess abläuft, behandelt die Norm ausführlich im folgenden Teil, der vier miteinander verbundene Gestaltungsaktivitäten einführt:
Verstehen und Festlegen des Nutzungskontexts
Hier will man im Sinne des ersten Grundsatzes möglichst viel über Benutzergruppen, ihre Ziele, Aufgaben, Ressourcen sowie die Umgebung erfahren. UX Professionals setzen verschiedene Methoden ein, zum Beispiel kontextuelle Interviews oder Feldbeobachtungen. Darüber hinaus erwähnt die Norm explizit die Analyse bestehender oder ähnlicher Systeme, um Mängel und Ausgangsniveaus für Leistung und Zufriedenstellung zu erkennen und um Notwendigkeiten, Probleme und Einschränkungen zu ermitteln, die übersehen werden könnten.
Festlegen der Nutzungsanforderungen
Die Beschreibung sollte in sich widerspruchsfrei sein, durch die Stakeholder verifiziert und so abgefasst, dass sie einer nachfolgenden Prüfung standhält. Das Dokument muss »leben«, sich also über die Projektdauer aktualisieren und korrigieren lassen.
Erarbeiten von Gestaltungslösungen
Das geschieht über mehrere unterschiedliche Teilaktivitäten, die von der Aufgaben- bis hin zur Systemmodellierung reichen. Hier wird festgelegt, welche Aufgaben automatisiert und welche den Benutzern zugewiesen werden sollen. Weiterhin müssen die verantwortlichen UX Professionals geeignete Interaktionsobjekte und Dialogtechniken auswählen sowie die Informationsarchitektur und das visuelle Design zur Aufmerksamkeitssteuerung festlegen. Aussehen und Bedienung spielen ebenso eine große Rolle.
Die Gestaltungsoptionen werden durchgängig über Szenarien, Simulationen, Modelle und Prototypen visualisiert – in frühen Stadien mit einem geringen Detaillierungsgrad (Low Fidelity), im weiteren Projektverlauf mit immer realistischeren Darstellungen, gegebenenfalls bereits in der Zieltechnik (High Fidelity). Das hat den Vorteil, dass UX Professionals verschiedene Gestaltungskonzepte in allen Phasen der Konzeption durchdenken, ausprobieren und Benutzern zur Bewertung vorlegen können, um frühzeitiges Feedback zu erhalten. Dieses Vorgehen erfordert dauerhaft etablierte Kommunikationswege sowie eine angemessene Dokumentation.
Evaluieren der Gestaltung
Das ist das entscheidende Element des menschzentrierten Gestaltungsprozesses, denn in dieser Phase geben Benutzer Rückmeldungen über die Stärken und Schwächen der Angebote. Wichtig ist, nicht nur am Projektende zu prüfen, sondern durchgängig: Auch in frühen Stadien können UX Professionals repräsentative Nutzer bitten, Aufgaben anhand von Modellen oder (Papier-)Prototypen zu erledigen. Es zeigt sich hier, ob die erarbeiteten Vorschläge die Anforderungen erfüllen.
Eine weitere Option ist die inspektionsbasierte Evaluierung, bei der die Benutzer keine Rolle spielen. Die UX Professionals bewerten ein System anhand ihrer Erfahrungen mit bekannten Problemen und Lösungen sowie mit ihren Kenntnissen ergonomischer Richtlinien und Normen. Das ist billiger und dazu geeignet, die Prüfung mit Benutzern zu ergänzen oder vorzubereiten. Die Arbeit mit echten Benutzern kann sie jedoch niemals gleichwertig ersetzen.
Ständige Verbesserungen sind gewünscht
Folgende Abbildung zeigt die verschiedenen Tätigkeiten und ihre Abhängigkeiten im Zusammenhang. Dass der Prozess Iterationen vorsieht, ist gut zu erkennen, ebenso wie die Bedeutung der Evaluierung: Sofern die UX-Designerinnen Schwächen in der Gestaltung erkennen, Erfordernisse nicht berücksichtigt oder Benutzergruppen falsch verstanden oder übersehen haben, können sie in die entsprechende Phase zurückspringen und das System mit der nächsten Iteration optimieren.
Darüber hinaus zeigt sich, dass der Gestaltungsprozess nicht ohne Planung auskommt. Und anders als es die Darstellung nahelegt, ist das Planen eine Tätigkeit, die den Prozess nicht unveränderlich aufsetzt, sondern als kontinuierliches UX-Management, das auf neue Rahmenbedingungen reagieren kann.
Bei dem gezeigten Prozess handelt es sich um eine geradezu ikonische Darstellung der User Experience. Und doch haben die zuständigen Gremien die neueste Version der Norm an einer entscheidenden Stelle erweitert: Es gibt nun einen Kasten um die vier Tätigkeiten, und der Pfeil ausgehend von »Planen des menschzentrierten Gestaltungsprozesses« zeigt nicht mehr auf die Aktion »Verstehen und Festlegen des Nutzungskontextes«, sondern auf diesen Kasten. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied, denn es wird kein besonderer Startpunkt mehr festgelegt.
Fazit: Menschzentriert gestalten lohnt sich
An den menschlichen Bedürfnissen ausgerichtetes Gestalten und Entwickeln interaktiver Systeme bietet erhebliche ökonomische und soziale Vorteile für die Benutzer. Auch die Hersteller profitieren davon, denn Produkte mit nachweislich guter Akzeptanz sind nicht nur in technischer, sondern auch in kommerzieller Hinsicht meist erfolgreicher. Käufer sind eventuell bereit, einen höheren Preis zu zahlen und die Kosten für Beratung und Schulung fallen geringer aus. Nachweislich erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Projekt erfolgreich, termin- und budgetgerecht abschlossen wird, denn die Gestaltungsmethoden verringern das Risiko, dass das Produkt die Wünsche der Stakeholder nicht erfüllt oder die Benutzer es ablehnen.
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